6 janvier 2011

Rückblick: Von der Scheinheiligkeit à la française oder dem "modèle républicain"

Soeben habe ich den alten Blog offiziell abgeschaltet. Er war angelegt für das Jahr in Frankreich, als eine Art Reisetagebuch. Löschen werde ich ihn nicht, denn es stecken sehr viele niedergeschriebene Erinnerungen darin. Einen meiner liebsten Posts möchte ich jedoch noch einmal hier publizieren, unverändert.

Erstmals veröffentlicht am 15. März 2010: [Von der Scheinheiligkeit à la française oder dem "modèle républicain"]

Eine Reflexion.

Viele von euch wissen sicherlich, dass Franzosen von einer gewissen Arroganz geprägt sind. Jedenfalls würden aus-dem-Bauch-heraus einige unter euch sicherlich zustimmen. Das fängt bei der Tatsache an, dass die Franzosen ihre Kultur, vor allem aber ihre Sprache gegen jegliche Einflüsse von außen schützen. Sicherlich - bei der deutschen Neigung, Anglizismen einfach zu adaptieren, muss man sich mitunter schon wundern. Von "Public Viewing" über "Coffee to go" bis hin zu "Kiss&Ride" scheinen "wir Deutsche" alles latent zu internalisieren. Die Franzosen hingegen erfinden für jedes noch so alltägliche Wort eine französische Entsprechung. Okay, ein Notebook ist ein "ordinateur portable" [tragbarer Computer...äh...naja, eine tragbare Datenverarbeitungsanlage], aber warum für die E-Mail mit der lediglich phonetisch ähnlichen Entsprechung "mél" nun auch noch ein Wort gefunden werden muss, bleibt offen.

Doch eigentlich denke ich über etwas ganz anderes nach. Seit der Französischen Revolution leben die Menschen in Frankreich unter der Trias "Liberté, Égalité, Fraternité" [Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit]. Dabei scheint mir die Égalité das zentrale Element. Mitunter habe ich das Gefühl, dass man Égalité jedoch durch Unité oder besser noch Uniformité ersetzen könnte. Denn die valeurs du modèle republicain [Werte des republikanischen Models] stehen zwar offiziell für die Gleichheit jeder/s Lebensweise, Religion, Hautfarbe, (sexuellen) Identität, Geschlechts, sozialen Status etc. In Wirklichkeit schützen sie natürlich die Kultur der Mehrheit. Der Franzose ist weißer Hautfarbe, Katholik und heterosexuell.

So kommen mir die Debatten in Frankreich über die nationale Identität (initiiert von Sarko-K.O. ;), Integration und Religion vor allem ziemlich scheinheilig vor. Wie ich bereits anklingen ließ, besteht die Idee der französischen Republik seit 1789 darin, aus allen in Frankreich lebenden Menschen Bürger der einen, unteilbaren, demokratischen Republik zu machen. Wichtig ist vor allem das Konzept der Laizität, also der Trennung von Religion und Staat. Dieses Konzept, was ursprünglich gegen die katholische Kirche ausgerichtet war, richtet sich heute in erster Linie gegen den Islam. Seit 2004 ist das Tragen von Kopftüchern in öffentlichen Bereichen, insbesondere Schulen, verboten. Das Tragen einer Kette mit Kruzifix-Anhänger dagegen nicht. Im Moment läuft alles darauf hinaus, dass das Tragen der Burqa gänzlich verboten wird. Über die Burqa kann man natürlich sehr geteilter Meinung sein (religiöses Symbol - Symbol der Unterdrückung der Frau?). Fakt ist jedoch, dass die verwendeten Argumente gegen die Burqa scheinheiliger nicht sein könnten.

Das Modell der Republik, die die gleichen Werte teilt, richtet sich ein wenig allgemeiner gesprochen gegen jede Form von Multikulturismus. In den französischen Denk-Schemata gibt es schlicht keine Unterschiede, keine Menschen mit verschiedenen Hintergründen, keine Subkulturen... Alle sind französisch. Soweit die Theorie.

Die Realität sieht ein wenig anders aus. Frankreich fühlt sich bedroht. Einige sprechen von der "crise de sens" [Sinnkrise], vom Kulturverfall, von den negativen Ergebnissen der Globalisierung oder von der Risikogesellschaft, die auf die neuen komplexen Probleme keine Antwort findet. Schon lange bevor Westerwave den rhetorischen Giftkoffer öffnete (freilich in anderem Zusammenhang) spricht Frankreich von "Dekadenz", aber natürlich auch vom "Problem der Immigration" sowie von "anti-französischem Rassismus". Maßgeblich mitverantwortlich ist die rechtsextreme Front National unter Jean-Marie Le Pen (die seit den 1980er Jahren dritte politische Kraft Frankreichs ist und bei den gestrigen Regionalwahlen in der Lilloiser Region 20% holte). Le Pen ist ein wahnsinnig intelligenter Rhetoriker. Zwar nimmt ihn die Mehrheit der Franzosen als merkwürdig und gefährlich wahr, dennoch hat er es geschafft, ihr Denken nachhaltig zu verändern.

Egalität und die Werte der Republik bestimmten also das französische Selbstverständis. Ziel ist dabei die Inklusion. Meiner Meinung nach wird jedoch weniger Inklusion als Exklusion vollzogen. Eine Grenze zwischen "nous" und "eux" [wir/ihr] wird konstruiert. "Wir" wird dabei nie definiert, vielmehr ein Gefühl der kollektiven Bedrohung in Abgrenzung zu den anderen geschaffen.

Ich möchte nicht falsch verstanden und gerne hart kritisiert werden. Das beschriebene Phänomen ist ebenso verallgemeinert wie subjektiv. Auch möchte ich überhaupt nicht sagen dass "wir Deutsche" besser wären. Im Gegenteil. Durch unsere historisch bedingten Komplexe haben wir allerdings nicht dieses "deutsche Model". Aus diesem Grund kommen mir die Debatten und Probleme der Franzosen nur einfach nur so wahnsinnig français vor.

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