6 août 2014

"Vorsicht, fickende Elche", oder: Wie ich plötzlich jede Woche wandern ging

Damals, im Familienurlaub, stand eine Aktivität besonders hoch im Kurs: das Wandern. Über Wiesen und Felder, Berge und Wälder, Schluchten und Buchten: bevorzugt dabei die Strecken, die wir in den letzten fünf Jahren schon zwanzigmal gelaufen sind. Als das Wandern allmählich vom Fahrrad fahren abgelöst wurde, verabschiedete ich mich so langsam aus den Familienurlauben. Als Teenie werden die irgendwann einfach uncool, gar sozial verpönt bei der eigenen Peer-Group. Nun, da ich langsam stark auf die 30 zugehe, gewinnt die längst überwunden geglaubte Aktivität wieder an Bedeutung.
 
Alles fing an, als ich erfuhr, dass man in Frankfurt, in Hessen und darüber hinaus gewissermaßen dazu verpflichtet ist, am 1. Mai einen (Wander-)Ausflug zu machen. Meinen ersten 1. Mai im goldenen Westen sollte ich im Kreis Bergstraße auf der Weinlagenwanderung verbringen. Wein ließ mich hellhörig werden. An einem Feiertag wandern und Alkohol trinken. Das kannte ich doch aus dem testosterongesteuerten Osten, wo man(n) an Christi Himmelfahrt seine Männlichkeit zelebriert und dabei ganz unmännlich gern mal mit dem Kajak kentert oder einen Salto vom Fahrrad in den Straßengraben macht. Hab ich zumindest mal gehört. Die Weinlagenwanderung ist toll, nur sollte man sie auf keinen Fall am 1. Mai machen. Wenn man Glück hat, hat man an sonnenklaren Tagen sogar einen wunderschönen Ausblick auf das Atomkraftwerk Biblis. Wenn das mal keine Reise wert ist! 


 
Zum Frankfurter Pflichtprogramm gehört daneben auch der jährliche Ausflug auf den Feldberg. Hat man erst mal die knapp 45minütige Fahrt mit der "U"-Bahn Richtung Oberursel-Hohemark überstanden, von wo der Aufstieg idealerweise beginnt, wird einem schlagartig klar, dass man hier im reicheren Teil des sowieso schon gut betuchten Frankfurter Speckgürtels angekommen ist. Diese Erkenntnis wird beim erfolgten Abstieg in Richtung Königstein nochmals verstärkt, wie schon Maria und Josef schmerzlich erfahren mussten (siehe vielbeachteter Zeit-Artikel, vom 26.12.2011). Falls man den Feldberg-Ausflug trotz der raketenartig herabschießenden Mountainbiker überlebt hat, kann man im lokalen Café zwischen Säulengang und Marmorterrassen bei einem Soja-Latte Macciato und Apfelstrudel für 113,50 Euro dem kläglichen Versuch der örtlichen High Society lauschen, ihre Kinder zweisprachig aufwachsen zu lassen, also hessisch und denglisch (bzw. henglisch muss es wohl in diesem Fall heißen).

Apropos Leute mit überzogenem Selbstbewusstsein: als (Groß-)Städter meint man manchmal, die als selbstverständlich wahrgenommenen Standards müssten überall gelten. So wollten wir uns nach abgeschlossener 25km-Wanderung entlang des Rheins den kleinen Luxus erlauben, den noch anstehenden 45minütigen Aufstieg zur Jugendherberge durch eine Busfahrt zu ersetzen. Smartphone raus, alles klar: Öffi-App schickt uns mit dem Regio in den Nachbarort, von dort bringt uns der Bus auf den Berg. Bei entspannten acht Minuten Umsteigezeit dürfte ja wohl nichts schief gehen. Denkste! Am Haltestellenschild stand plötzlich "ALB". Während ich noch überlegte, welchen jugendlichen Slang ich nach YOLO und SWAG schon wieder nicht mitbekommen hatte, las ich aus den entsetzen Gesichtern meiner Wander-Selbsthilfe-Gruppe, dass es sich hierbei um einen Anruflinienbus handelte, den man - falls man auf die abwegige Idee kommen sollte, ihn benutzen zu wollen - anderthalb Stunden vorher anrufen musste. Naja, was soll's. Die Zeit, bis das Taxi kam, verbrachten wir im örtlichen Bubble-Tea-Laden und luden die aktuellen Schnappschüsse bei Instagram hoch. Und Öffi wusste es ja immerhin auch nicht besser.


Aus Fehlern lernt man, hab ich gehört. Und so bereiteten wir uns beim Nibelungensteig ungleich besser vor. Die passenden ÖPNV-Verbindungen suchten wir uns diesmal sogar einen Tag(!) vorher raus und druckten diese aus(!!). Nach dreimaligem Verlaufen inklusive Schluss-Spurt kamen wir an der finalen Bushaltestelle an. Pointe diesmal: Bus fährt nur von Montag bis Freitag. Gestrandet waren wir in einem 100-Seelen-Dorf, ohne dass wir eine dieser Seelen zu Gesicht bekamen, wir hatten keinen Handy-Empfang und es gab nicht mal einen Bubble-Tea-Laden. Die ältere Dame, die uns gefühlte drei Stunden später (die Wölfe heulten schon) für zwei Waffeln in den nächsten Ort mit einer Busverbindung zurück in die Zivilisation fuhr, hat sich sofort einen Platz in meiner Top5 der nettesten Menschen im goldenen Westen gesichert - gleich hinter der netten Seele, die mir damals einen Federweißer ausgab, als ich ihn dringend benötigte.

Fazit: Es gibt wohl kaum eine größere Herausforderung als zu wandern. Dies stößt nur leider nicht überall auf die gebührende Anerkennung. Als wir neulich am Vierwaldstädter See mit vor Stolz geschwollener Brust von unserer Wanderung auf dem "Weg der Schweiz" erzählten, meinten unsere Schweizer Mitcamper: "Das ist doch kein Wandern! Da hat's nicht mal einen Berg!" Was soll man dazu noch sagen? Die nächste Wanderung kommt bestimmt. Und sei es nur, um herauszufinden, dass Lorelei in Wirklichkeit ein Mann war, im passenden Moment in einer Felsspalte zu pupsen oder den wunderschönen Ausblick aufs ortsnahe Atomkraftwerk zu genießen.