28 mai 2015

Bahnstreik oder "Bis(s) zum Abendgrauen"

Ich geb's ja zu, die Voraussetzungen waren schwierig. Wer schon auf die verrückte Idee kommt, zur besten Feierabend-Zeit(!) vor dem Pfingst-Wochenende (!!) in den Zug nach Hamburg(!!!) zu steigen, sollte dies am besten während des GDL-Streiks tun. Alles andere wäre doch langweilig.

Die Gladiatorenkämpfe beginnen damit, die Ellenbogen auszufahren und möglichst viele Menschen davon abzuhalten, vor einem selbst den hoffnungslos überfüllten Zug zu betreten. Bewährt haben sich beispielsweise Taktiken wie das Lockern von Rollator-Bremsen im falschen Moment oder das Abdrängen von Eltern mit Kinderwagen mittels des eigenen Rollkoffers. Den Unmut der ohnehin immer gestressten Fahrgäste der Deutschen Bahn sollte man anschließend noch erhöhen, indem man beginnt, ihnen die Sinnhaftigkeit von Streiks zu erklären. "Ein Streik, der keinem weh tut, ist kein Streik", sagte ich. Vor Fassungslosigkeit blieb der ältere Herr neben mir mit offenem Mund stehen, sodass ich passieren konnte.

Freilich konnte man im einzigen Zug in einem Zeitfenster von fünf Stunden Richtung Norden keine Sitzplätze mehr reservieren. Schon bitter, dachten wir uns und machten es uns im Bordbistro bequem. Noch immer standen zahlreiche Fahrgäste auf dem Bahnsteig, mehr noch als sich ohnehin schon im Zug stapelten. Die DB-Mitarbeiterin, die draußen schnell noch zehn Zigaretten innerhalb von zwei Minuten rauchte, schüttelte entgeistert den Kopf. Zwanzig Minuten nach der regulären Abfahrtszeit plötzlich eine Durchsage "Sehr geehrte Fahrgäste: Dieser Zug wird Frankfurt nicht verlassen. Alle Fahrgäste, die keinen Sitzplatz haben, müssen bitte aussteigen. Dieser Forderung werden wir auch mithilfe der Bundespolizei nachgehen." Schon bitter, dachten wir, streckten die Füße auf den Bistro-Tisch vor uns aus und winkten den aussteigenden Fahrgästen. Überraschenderweise folgten die meisten Menschen im Zug (ohne Sitzplatz) der Aufforderung widerstandsfrei, in unserem Wagon auch ohne Einwirken der Bundespolizei - die zwar ebenso schlecht bezahlt ist wie die meisten Lokführer, aber aufgrund ihres Beamtenstatus leider nicht streiken darf.

Vierzig Minuten später verließ der Zug doch noch den Frankfurter Hauptbahnhof. Die Umsteigezeit von 13 Minuten in Hannover würde uns damit wohl nicht mehr reichen. Die Stimmung im Bordbistro war trotzdem gut. Grund dafür war der direkte Draht zur DB-Zapfanlage. Gegenüber von uns saßen zwei Halbstarke auf dem Weg zur Reeper-Bahn, ein Zahnarzt aus Basel sowie ein schüchterner Typ, der seine Oma besuchte, so wie jedes Wochenende. Neben uns eine schwer verständliche Schwäbin samt Enkelin, von denen man nicht wusste, wer von beiden die lautstarke Männer-Runde mehr anhimmelte sowie drei unnahbare Mittfünfzigerinnen, denen man die Woche in Paris deutlich im Gesicht ansah. Den allgemeinen Bier-Vorsprung im Abteil mussten wir natürlich schnellstmöglich aufholen.

- Halbstarker 1: "Wir sind seit 16 Uhr unterwegs."
- Mittfünfzigerin 1: "Das ist ja gar nix. Wir sind seit 13 Uhr unterwegs."
- Zahnarzt: "Ich komm aus Basel."
- Halbstarker 2: "Wo kommt's ihr her?"
- Mittfünfziger 2: "Aus Paris."
- Halbstarker 2: "Aus Paaaaariiiis? Wieso fährt man da wieder weg. Nach Paris gibt's doch nur One-Way-Tickets."

Die Schlange zur Verkaufstheke wird länger. Mittlerweile ist die Curry-Wurst aus. Die Stimmung droht zu kippen. Zum Glück gibt's noch Chili con Carne. Einer der beiden Halbstarken geht zum fünften Mal seit der Räumung des besetzten Zugs zur Theke, um sich ein Bier zu holen. Er stolpert, lässt ein Glas fallen und selbiges aufkehren.


- Zahnarzt: "Meine Freundin, also mittlerweile Frau, hat mich gezwungen, Twilight zu gucken. Ich dachte immer, was ist das denn? Da fliegt einer rum und alle Frauen gehen voll drauf ab."
- Halbstarker 1: "Die werden feucht."
- Zahnarzt: "Aber dann! Dann hab ich es mir mal angeschaut und das ist ja schon eine sehr gute Geschichte, die da erzählt wird. Und ist ja klar, dass die Frauen darauf abgehen."
- Halbstarker 1: "Die werden feucht."
- Halbstarker 2: "Captain Niveau: wir sinken."

Wir stoßen an und nehmen uns vor, Pfingsten für einen Twilight-Marathon zu nutzen, falls wir nicht mehr ankommen sollten. Der Zahnarzt versucht dem Halbstarken inzwischen klar zu machen, dass dieser aussieht wie der eine Arzt von Grey's Anatomy. Dummerweise kann ihm keiner folgen, sodass das Bordbistro die nächsten 20 Minuten damit beschäftigt ist, den Namen dieses einen Arztes rauszufinden. Der Schwaben-Enkelin ist deutlich anzusehen, dass sie schon längst weiß, um wen es sich dreht.

- Zahnarzt: "Grey's Anatomy. Na der eine Arzt mit den blauen Augen."
- Halbstarker 1: "Dreamy!"
- Zahnarzt: "Neeeein! Der hat kurze Haare! ... Grey's Anatomy, kennen Sie das?"
- Mittfünfzigerin 1: "Wie? Nein."
- Zahnarzt: "Das ist so eine Arztserie! So eine Soap. Wie Lindenstraße oder Reich und Schön"
- Mittfünfzigerin 3: "Reich und schön? Das sind wir selber."
- Zahnarzt: "Aber Lindenstraße, ich hab mir das neulich mal angeschaut. Das ist schon eine sehr gute Geschichte, die da erzählt wird. Die spielen alle noch mit wie vor 20 Jahren. Man sieht die aufwachsen. Wie bei Big Brother."


Wieder wird neues Bier geholt. Dem schließe ich mich an, liegen wir doch hoffnungslos zurück. Mittlerweile ist das Fassbier alle. Die Stimmung droht zu kippen. Zum Glück gibt's noch Weizenbier. Mittlerweile sind sogar die Jungs vom Zahnarzt genervt. Twilight, der eine Arzt von Grey's Anatomy und Klausi Beimer aus der Lindenstraße scheinen sie nicht sonderlich zu interessieren. Sie wenden sich dem schüchternen Jungen zu, der seine Oma besucht, wie jedes Wochenende.

- Halbstarker 1: "Wie heißt du?"
- Schüchterner Typ: "Arne."
- Halbstarker 2: "Arnold?"
- Schüchterner Typ: "Arne."
- Halbstarker 1: "Arni?"
- Schüchterner Typ: "Arne."
- Halbstarker 2: "Haben Sie schon Arnold Schwarzenegger kennengelernt?"
- Mittfünfzigerin 1: Nur, dass er da bei euch hockt."
- Halbstarker 1: "Arnold, wo steigst du aus?"
- Schüchterner Typ: "In Hannover, mit den netten Damen"
- Halbstarker 2: "In Hannover? Mit den Königinnen? Du hast ja mehr Glück als Verstand!"

Die beiden Halbstarken versuchen die plötzlich eingetretene, peinliche Stille durch das Abspielen von elektronischer Musik zu füllen. Sogar der Zahnarzt aus Basel schweigt. Die Stimmung droht zu kippen.

- Mittfünfzigerin 1: "Kann man das mal ausmachen?"
- Halbstarker 1: "Aber wieso denn? Ist doch schöne Musik!"
- Mittfünfzigerin 2: "Ihr müsst auch mal Rücksicht nehmen auf alte Frauen"
- Halbstarker 2: "Ich wollte Sie gerade zum Tanzen auffordern."
- Mittfünfzigerin 2: "Ne, lass mal. Dafür haben wir die falschen Schuhe an."
- Halbstarker 1: "16cm-Absätze? In dem Alter sollte man auf Ballerinas umsteigen."
- Halbstarker 2: "Wie, Sie wollen nicht mit mir tanzen? Nicht mal Salsa?"
- Mittfünfzigerin 2: "Ne, lass mal."
- Halbstarker 1: "8cm? Die trag ich zum Frühstück."
- Halbstarker 2: "Ich mach nur den Grundschritt und eine Drehung."
- Mittfünfzigerin 3: "Vielleicht ein anderes Mal."
- Halbstarker 2: "Dann krieg ich Ihre Nummer?"

Senk ju vor träwelling wis Deutsche Bahn. Zugfahren kann so schön sein. Danke, Herr Weselsky, für die wunderbare Möglichkeit einer teilnehmenden Beobachtung. Dafür nimmt man dann gern einmal drei Stunden Verspätung in Kauf. Mein bisheriger Rekord liegt übrigens bei 12 Stunden. Das hatte allerdings Witterungsgründe. Ich würde mir trotzdem einen Erfolg in der Schlichtung wünschen. Denn wenn die Bahn ihre Mitarbeiter anständig bezahlt, muss sie sich wenigstens nicht mehr mit bösen Lokführern rumschlagen, sondern kann sich wieder ihren eigentlichen Feinden widmen: Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Schon bitter, dachten wir und freuten uns, dass uns zumindest am Pfingstwochenende der Twilight-Marathon erspart blieb.

"DR. AVERY!", rief der Zahnarzt dem Zug hinterher, nachdem er ausgestiegen war.