20 octobre 2011

"Fangen Sie an, Fritz"

Vor einiger Zeit habe ich bereits die Erinnerungen von Fritz Stern vorgestellt. In seinem Gesprächsband mit Helmut Schmidt stellt man einmal mehr fest, wie wichtig es ist, sich (unsere) Geschichte im eigenen Bewerten und Handeln stets vor Augen zu führen. Zwei Herren mit interessanter Biografie und inzwischen fortgeschrittenem Alter sprechen drei Tage miteinander. Am besten sind jene Stellen, an denen sie mal nicht einer Meinung sind.


Zentrales Thema ist natürlich der Nationalsozialismus - Stern ist Historiker, Amerikaner deutsch-jüdischer Herkunft, der aus Deutschland fliehen musste; Schmidt Alt-Bundeskanzler, Soldat im 2. Weltkrieg und Politiker der ersten Stunde nach dem Ende des Krieges. Sehr eindrucksvoll schildern sie ihre jeweiligen Eindrücke aus dieser Zeit, die selbstredend unterschiedlicher nicht sein können.

Persönlich ist mir bis heute nicht klar, dass bestimmte Dinge nicht gesehen wurden. Stern bemüht immer wieder Nietzsche, so zum Beispiel auch zur Erklärung dieses Phänomens: "[...] aus der innerlichsten Feigheit vor der Realität, die auch die Feigheit vor der Wahrheit ist." Er unterstellt den Deutschen eine Verdrängung der Wirklichkeit, quasi kein Nicht-Wahrnehmen, sondern ein Nicht-Wahrnehmen-Wollen. Das ist natürlich eine ziemlich große These, aber zumindest sollte sie doch nachdenklich stimmen. Und so beginnt auch die Diskussion der beiden:
Schmidt: [...] Ich muss Ihnen hier bekennen: Ich habe erst während des Krieges begriffen, dass die Nazis Verbrecher waren. [...] ich habe nur begriffen, dass die verrückt sind, nicht dass sie Verbrecher sind. [...]
Stern: Helmut, entschuldigen Sie, wenn ich es so sage: Dazu gehörte ein gewisser Wille, es nicht zu sehen. Dazu gehörte das, was Nietzsche die "Feigheit vor der Wahrheit" genannt hat. Die Realität war, dass die Nazis die Straße beherrschten in dem Sinne, dass sie Andersdenkende oder ehemalige politische Feinde oder Juden verhafteten, jeden, der ihnen nicht passte. [...] Diese Realität habe ich als Kind vollkommen begriffen.
[...]
Schmidt: [...] Ich glaube, den Deutschen war diese Ekel-Propaganda zuwider, man konnte es nicht mehr hören, dieses ewige "Der Jude ist schuld". Die Deutschen wolltes es eigentlich nicht wissen.
Stern: Das ist meines Erachtens ungeheuer wichtig: Sie wollten es nicht wissen. [...] (S. 78ff.)
Spontan ist man mit Stern auf einer Linie, wobei Schmidt an vielen verschiedenen Beispielen schildert, dass er nichts mitbekommen hat. Fraglich bleiben öffentliche Aktionen, die die Deutschen mitbekommen haben mussten, wie die Reichskristallnacht oder auch vermeintlich weniger schlimme Taten, wie die Bücherverbrennungen (Stern: [...] Das war an und für sich nicht zu begreifen, dass man im 20. Jahrhundert vor deutschen Universitäten große Scheiterhaufen  errichtet und Zehntausende von Büchern verbrennt und dass das schweigend hingenommen wird. [...] Es gibt kaum etwas, was so radikal primitiv, so babarisch wäre, wie Bücher zu verbrennen. Die Aktion [...] hätte eigentlich Ekel auslösen müssen, hätte dazu führen müssen, dass man sagt, wir können uns doch nicht von solchen Leuten regieren lassen. (S. 74f.))

Vom zentralen Thema des Nationalsozialismus kommen sie nie ganz weg, aber das ist auch gut so. Nicht minder interessant sind jedoch die anderen Themen, vom Aufstieg Chinas (Schmidt: "Es wäre nicht gerecht, die gegenwärtige Entwicklung Chinas als bloß ökonomischen Fortschritt zur klassifizieren.", S. 38), über die historische Bedeutung des Marxismus (Stern: "Aber ist ein Minimum an sozialer Gerechtigkeit nicht notwendig, damit ein Gemeinwesen überhaupt funktionieren kann?", S. 240), bis hin zur heutigen FDP (Schmidt: "wie heißt er noch, Westerwelle", S. 132). Resultat ist ein sehr geistreiches und unterhaltsames Gespräch. Am Ende wünscht man sich, Helmut Schmidt und Fritz Stern hätten noch weitere drei Tage miteinander gesprochen.


Stern, Fritz; Schmidt, Helmut (2010): Unser Jahrhundert: ein Gespräch. München. Beck. 


2 commentaires:

schlatter a dit…

Klingt nach einem interessanten Gespräch, würden doch nur mehr Leute auf die weisen Alten hören, aber ich habe mich von dem Gedanken abgewandt, dass die Menschheit aus ihren Fehlern der Vergangenheit lernen wird.
Ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass auch heute Bücher verbrannt werden, haben nicht letztens erst Flaggen und der Koran gebrannt?
Zum Thema, des nicht sehen (wollens): natürlich ist es klar, dass ein Emigrant die Dinge anders wahrnimmt, als einer der weiterhin in dieser Welt leben und klar kommen musste. Denk mal darüber nach was du über deine WG gesagt hast, man bekommt einfach einen anderen Blick, wenn man mit den Dingen abschließt und sich auf eine ganz andere Weise mit ihnen auseinandersetzen kann. Und somit hat Nietzsche mit seiner Feigheit vor der Realität nur halb Recht, denn die Feigheit vor der Wahrheit entsteht meiner Meinung nach aus der Einsicht in die Notwendigkeit. "Nicht in der geträumten Unabhängigkeit von den Naturgesetzen liegt die Freiheit, sondern in der Erkenntnis dieser Gesetze, und in der damit gegebenen Möglichkeit, sie planmäßig zu bestimmten Zwecken wirken zu lassen." (Engels) Soll heißen, dass die Menschen sich eben mit ihren Rahmenbedingungen arrangiert haben und versuchten in diesen Grenzen ihr Leben zu leben. Ich möchte hier nicht den Nationalsozialismus verteidigen, lediglich einen Denkanstoß liefern, warum die Menschen damals vielleicht handelten wie sie es taten. Und in gewisser Weise wiederholt sich Geschichte, in der DDR war das Verhalten der Menschen ähnlich, Menschen arrangierten sich mit dem totalitären Regime um ihr Leben zu leben. Und wer sich arrangiert lernt zwangsläufig die Augen zu verschließen vor Sachen bei denen man hinterher sagt, wie konnte das nur passieren?
Aber gut, so viel von mir.

La vie est claire et floue a dit…

Interessanter Gedanke, den man nicht außer Acht lassen darf, wahrscheinlich ist er sogar wichtiger. Das Phänomen des Verdrängens taucht aber auch immer wieder im Nachhinein auf, etwa wenn Menschen in nostalgische Gefühlswallungen à la "Früher war alles besser verfallen". ... So werden die guten Seiten bspw. der DDR umso besser und die schlechten verklärt. Ein Prozess, den man individuell oft sehr gut nachvollziehen kann, den man aber m.E. immer wieder stören sollte.