Moritz von Uslar - arroganter Wessi, Journalist, Bildungsbürger, Großstädter trifft ihn: den ostdeutschen Proll - böse, widerlich, asozial, beinhart, abstoßend. Kann das gut gehen? Die größte Überraschung, so Uslar am Ende seines Buches, sei es, dass er in der Zeit keinen auf die Fresse bekommen hat.
Drei Monate will Uslar in das Zusammenleben in der ostdeutschen Provinz eintauchen und teilnehmend beobachten. Dabei ist ihm der exakte Ort egal, es soll eine Kleinstadt sein, größer als ein Dorf, kleiner als eine Stadt. Zu Beginn versucht der Autor seinen Berliner Freunden bei Steak und Champagner den Plan zu erklären, von dem er selbst noch nicht ganz überzeugt ist:
"Ich haue ab von hier, dort hin, wo kaum ein Mensch je vor uns war - nach Hardrockhausen, Osten, nordöstliche Richtung, nicht zu weit weg, vielleicht eine Stunde von Berlin entfernt. Dort suche ich mir einen Boxclub, trainiere mit, hänge rum und tue nichts, außer die ganze Zeit nur zuzuhören und zuzugucken, was passiert, und abends stelle ich mich da hin, wo der totale Blödsinn erzählt wird, auf Parkplätze, an Tankstellen, in Pilslokale, und nebenbei erfahre ich alles über des Prolls reine Seele, über Hartz IV, Nazirock, Deutschlands beste Biersorten und die Wurzel der Gegenwart"
Ihn interessiere eigentlich nichts, sagt Uslar. Somit versucht er alle Klischees zunächst wegzudrängen. Gleichzeitig ist ihm klar, dass das nicht mal ansatzweise funktionieren wird. So steht er und inszeniert sich selbst als arrivierter Westdeutscher und zelebriert seine Vorurteile geradezu. Gerade weil er aufgesetztes Gutmenschentum vermeidet, wirkt das Buch authentisch.
Für drei Monate zieht er also in die Pension "Haus Heimat" der Stadt Oberhavel (so sein fiktiver Name für die Kleinstadt), wo als einzige Speise "Topfwurst" auf der Karte steht und er zum größten Teil der einzige Gast bleibt. Beim ersten Streifzug durch die "Innenstadt" springt ihm die enorme Anzahl von Nagelstudios ins Auge, die als eine der wenigen Geschäftsformen langfristig zu überleben scheinen. Andere Geschäfte schätzen ihre Überlebenschance oft selbst sehr gering ein oder erweitern ihr Sortiment um kreative Zusatzangebote: die Schneiderei ist gleichzeitig Steuerbüro, in der Videothek kann man Grillzeug erwerben.
In der Dorfkneipe 'Schröder' treffen sich allabendlich die gleichen Männer zum Feierabendbier bzw. zur Feierabendmolle (auch wenn sie oft keinen Feierabend im eigentlich Sinne haben). Hier lernt Uslar Raoul kennen, der für ihn eine Art Türöffner in die Gesellschaft Oberhavels ist. Raoul, Mitglied der Punkrockband '5 Theets Less' (!), ist so was wie der inoffizielle Babo der Oberhavel Mitt-Zwanziger-Dreißiger, die überwiegend ausgebildete Handwerker sind, und nun Hartz-IV-Empfänger mit wenig Perspektive auf einen sozialen Aufstieg. Dank Raouls Standing darf Uslar fortan offen mit Aufnahmegerät mit den jungen, männlichen Oberhavelern abhängen (natürlich herrscht Frauenmangel). Highlight des Buches ist dabei das Kapitel über den Abend an der Aral-Tankstelle, an dem im Grunde nichts und doch soviel passiert:
"Sein Bericht überzeugt, weil er nicht klüger sein will als das Klischee", schreibt die FAZ. In der Tat verschwand auch meine anfängliche Skepsis über das Aufwärmen alter Klischees und Sozialromantik von Seite zu Seite. "Alte Kacke, gehen mir die Penner, gehen mir die Alkoholiker, Hirntoten, Eingefallenen, Zusammengefallenen und sonst wie Hinüberen und Weggetretenen in diesem Ort auf den Sack“, schreibt Uslar einmal zu Beginn. Diese Ehrlichkeit und der Verzicht auf vermeintliche Moral machen das Buch verdammt glaubwürdig. Von Seite zu Seite findet man die Protagonisten liebenswerter: Wirt Heinz Schröder, die unnahbare Bedienung Maria, Box-Trainer Maik, die Band Raoul, Eric und Rampa und all die anderen Männer von der Tankstelle: Blocky, Schubi, Phase, Hief Lätscha, Hundertzehnprozent und wie sie alle heißen. Sie alle haben sich ihren Platz am Rande der Gesellschaft nicht selbst ausgesucht, sie sind Charaktere mit tristen, aber letztendlich alltäglich-langweiligen Biographien, gefangen zwischen kommunistischer Jugend und teilweise rechter Vergangenheit, arbeitslos, perspektivlos, frauenlos, aber ruhig und im Leben stehend - und Besitzer von aufgemotzten Autos, deren Motor sie allzu gerne aufheulen lassen. Moritz von Uslar selbst wird einem nicht minder sympathisch auf diesen 400 Seiten. Er erwartet zu Beginn nichts aufregendes und findet am Ende nichts spannendes: "Ich war Reporterdarsteller. Mich interessierte eigentlich nichts, das war ja das Geile." Wie er es jedoch schafft, den ganz normalen, eigenartigen, langweiligen Oberhavelern näherzukommen, ihre Charaktere zu zeichnen und ihr ereignisloses Leben eindrucksvoll zu beschreiben, ist schlicht grandios. Deutschboden! Kauft, lest und genießt! Es lohnt sich. Versprochen.
"Ich fragte Eric, warum alle diese Freunde so komplett anders waren als er, sein Bruder und die Jungs in der Band. Er sah mich an durch seine Sonnenbrillengläser. Er war überrascht. Auch amüsiert. Ihn interessierte die Frage.
Eric: Sind die so anders?
Ich bestätigte: Die sind völlig anders. Ja.
(...)
Eric erklärte: Ich glaube, das liegt daran, dass diese Jungs jünger sind als wir. Er Eric, sei 25, André, Fred und die anderen seien 20 und 21. Jahre. Es seien nur drei, vier Jahre Unterschied, aber diese Jahre machten viel aus.
(...)
Eric wollte noch etwas sagen. Ich sah, dass die leichte Anstrengung im Kopf etwas war, was ihm Freude bereitete, das Nachdenken lag ihm, bloß bekam Eric die Dinge, die in seinem Kopf waren, manchmal nicht in Worte gefasst und ausgespuckt. Seine abgeblätterten Fingernägel. Ich dachte: Ihr dummen Klischees, ihr seid doch alle wahr. Einer, der sich in der Kleinstadt die Fingernägel schwarz lackierte, der grübelte eben auch gerne nach, der wollte mehr wissen, wollte ein bisschen nachdenklich sein.
Eric: Die Jungs, verstehst du, haben die DDR nicht mehr miterlebt. Aber Rampa, Raoul und ich, wir kommen von früher. Wir haben das alte Deutschland noch mitgemacht."
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"Die Schnitzelmeisterschaft, so erfuhr der Reporter, war das andere Riesending, der zweite gesetzte Termin im Sommerkalender der Kleinstadt. Zwanzig, dreißig Jungs nahmen an einer Festtafel im Restaurant Larifari Platz; dann ging es simpel darum, so viel paniertes Schnitzel wie nur irgend möglich in sich hineinzufressen. (...) dem Sieger winkten 200 Euro, dem zweiten Platz einhundert, dem dritten 50 Euro. Im letzten Jahr hatte Fred mit 1,3 Kilo den ersten Platz belegt, in diesem Jahr, so Raoul, würde sich die Tankstelle praktisch geschlossen anmelden, man wolle alle drei ersten Plätze heim nach Oberhavel holen."
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"Wie in der Gaststätte Schröder, im Probenraum, bei jeder Autofahrt (...), herrschte auch auf der Aral-Tankstelle Witzzwang. Eine Wortmeldung an deren Ende nicht laut wiehernd gelacht werden konnte, muss auch hier als durchgefallen gelten."
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"Gerüchte, welcher Investor die große Wiese an der Tankstelle kaufen wollte: McDonald's, so wusste einer, wollte kommen. McDonald's, so André, wäre für das Städtchen natürlich ein Hauptgewinn. Rossmann sollte demnächst neben Lidl eröffnen, das wäre für die Mädchen natürlich schön.
Raoul: Hier kommt niemand mehr."
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"Sein Bericht überzeugt, weil er nicht klüger sein will als das Klischee", schreibt die FAZ. In der Tat verschwand auch meine anfängliche Skepsis über das Aufwärmen alter Klischees und Sozialromantik von Seite zu Seite. "Alte Kacke, gehen mir die Penner, gehen mir die Alkoholiker, Hirntoten, Eingefallenen, Zusammengefallenen und sonst wie Hinüberen und Weggetretenen in diesem Ort auf den Sack“, schreibt Uslar einmal zu Beginn. Diese Ehrlichkeit und der Verzicht auf vermeintliche Moral machen das Buch verdammt glaubwürdig. Von Seite zu Seite findet man die Protagonisten liebenswerter: Wirt Heinz Schröder, die unnahbare Bedienung Maria, Box-Trainer Maik, die Band Raoul, Eric und Rampa und all die anderen Männer von der Tankstelle: Blocky, Schubi, Phase, Hief Lätscha, Hundertzehnprozent und wie sie alle heißen. Sie alle haben sich ihren Platz am Rande der Gesellschaft nicht selbst ausgesucht, sie sind Charaktere mit tristen, aber letztendlich alltäglich-langweiligen Biographien, gefangen zwischen kommunistischer Jugend und teilweise rechter Vergangenheit, arbeitslos, perspektivlos, frauenlos, aber ruhig und im Leben stehend - und Besitzer von aufgemotzten Autos, deren Motor sie allzu gerne aufheulen lassen. Moritz von Uslar selbst wird einem nicht minder sympathisch auf diesen 400 Seiten. Er erwartet zu Beginn nichts aufregendes und findet am Ende nichts spannendes: "Ich war Reporterdarsteller. Mich interessierte eigentlich nichts, das war ja das Geile." Wie er es jedoch schafft, den ganz normalen, eigenartigen, langweiligen Oberhavelern näherzukommen, ihre Charaktere zu zeichnen und ihr ereignisloses Leben eindrucksvoll zu beschreiben, ist schlicht grandios. Deutschboden! Kauft, lest und genießt! Es lohnt sich. Versprochen.
Moritz von Uslar (2010): Deutschboden. Eine teilnehmende Beobachtung. Kiepenheuer & Witsch, Köln. 19,95 Euro.
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