28 mai 2015

Bahnstreik oder "Bis(s) zum Abendgrauen"

Ich geb's ja zu, die Voraussetzungen waren schwierig. Wer schon auf die verrückte Idee kommt, zur besten Feierabend-Zeit(!) vor dem Pfingst-Wochenende (!!) in den Zug nach Hamburg(!!!) zu steigen, sollte dies am besten während des GDL-Streiks tun. Alles andere wäre doch langweilig.

Die Gladiatorenkämpfe beginnen damit, die Ellenbogen auszufahren und möglichst viele Menschen davon abzuhalten, vor einem selbst den hoffnungslos überfüllten Zug zu betreten. Bewährt haben sich beispielsweise Taktiken wie das Lockern von Rollator-Bremsen im falschen Moment oder das Abdrängen von Eltern mit Kinderwagen mittels des eigenen Rollkoffers. Den Unmut der ohnehin immer gestressten Fahrgäste der Deutschen Bahn sollte man anschließend noch erhöhen, indem man beginnt, ihnen die Sinnhaftigkeit von Streiks zu erklären. "Ein Streik, der keinem weh tut, ist kein Streik", sagte ich. Vor Fassungslosigkeit blieb der ältere Herr neben mir mit offenem Mund stehen, sodass ich passieren konnte.

Freilich konnte man im einzigen Zug in einem Zeitfenster von fünf Stunden Richtung Norden keine Sitzplätze mehr reservieren. Schon bitter, dachten wir uns und machten es uns im Bordbistro bequem. Noch immer standen zahlreiche Fahrgäste auf dem Bahnsteig, mehr noch als sich ohnehin schon im Zug stapelten. Die DB-Mitarbeiterin, die draußen schnell noch zehn Zigaretten innerhalb von zwei Minuten rauchte, schüttelte entgeistert den Kopf. Zwanzig Minuten nach der regulären Abfahrtszeit plötzlich eine Durchsage "Sehr geehrte Fahrgäste: Dieser Zug wird Frankfurt nicht verlassen. Alle Fahrgäste, die keinen Sitzplatz haben, müssen bitte aussteigen. Dieser Forderung werden wir auch mithilfe der Bundespolizei nachgehen." Schon bitter, dachten wir, streckten die Füße auf den Bistro-Tisch vor uns aus und winkten den aussteigenden Fahrgästen. Überraschenderweise folgten die meisten Menschen im Zug (ohne Sitzplatz) der Aufforderung widerstandsfrei, in unserem Wagon auch ohne Einwirken der Bundespolizei - die zwar ebenso schlecht bezahlt ist wie die meisten Lokführer, aber aufgrund ihres Beamtenstatus leider nicht streiken darf.

Vierzig Minuten später verließ der Zug doch noch den Frankfurter Hauptbahnhof. Die Umsteigezeit von 13 Minuten in Hannover würde uns damit wohl nicht mehr reichen. Die Stimmung im Bordbistro war trotzdem gut. Grund dafür war der direkte Draht zur DB-Zapfanlage. Gegenüber von uns saßen zwei Halbstarke auf dem Weg zur Reeper-Bahn, ein Zahnarzt aus Basel sowie ein schüchterner Typ, der seine Oma besuchte, so wie jedes Wochenende. Neben uns eine schwer verständliche Schwäbin samt Enkelin, von denen man nicht wusste, wer von beiden die lautstarke Männer-Runde mehr anhimmelte sowie drei unnahbare Mittfünfzigerinnen, denen man die Woche in Paris deutlich im Gesicht ansah. Den allgemeinen Bier-Vorsprung im Abteil mussten wir natürlich schnellstmöglich aufholen.

- Halbstarker 1: "Wir sind seit 16 Uhr unterwegs."
- Mittfünfzigerin 1: "Das ist ja gar nix. Wir sind seit 13 Uhr unterwegs."
- Zahnarzt: "Ich komm aus Basel."
- Halbstarker 2: "Wo kommt's ihr her?"
- Mittfünfziger 2: "Aus Paris."
- Halbstarker 2: "Aus Paaaaariiiis? Wieso fährt man da wieder weg. Nach Paris gibt's doch nur One-Way-Tickets."

Die Schlange zur Verkaufstheke wird länger. Mittlerweile ist die Curry-Wurst aus. Die Stimmung droht zu kippen. Zum Glück gibt's noch Chili con Carne. Einer der beiden Halbstarken geht zum fünften Mal seit der Räumung des besetzten Zugs zur Theke, um sich ein Bier zu holen. Er stolpert, lässt ein Glas fallen und selbiges aufkehren.


- Zahnarzt: "Meine Freundin, also mittlerweile Frau, hat mich gezwungen, Twilight zu gucken. Ich dachte immer, was ist das denn? Da fliegt einer rum und alle Frauen gehen voll drauf ab."
- Halbstarker 1: "Die werden feucht."
- Zahnarzt: "Aber dann! Dann hab ich es mir mal angeschaut und das ist ja schon eine sehr gute Geschichte, die da erzählt wird. Und ist ja klar, dass die Frauen darauf abgehen."
- Halbstarker 1: "Die werden feucht."
- Halbstarker 2: "Captain Niveau: wir sinken."

Wir stoßen an und nehmen uns vor, Pfingsten für einen Twilight-Marathon zu nutzen, falls wir nicht mehr ankommen sollten. Der Zahnarzt versucht dem Halbstarken inzwischen klar zu machen, dass dieser aussieht wie der eine Arzt von Grey's Anatomy. Dummerweise kann ihm keiner folgen, sodass das Bordbistro die nächsten 20 Minuten damit beschäftigt ist, den Namen dieses einen Arztes rauszufinden. Der Schwaben-Enkelin ist deutlich anzusehen, dass sie schon längst weiß, um wen es sich dreht.

- Zahnarzt: "Grey's Anatomy. Na der eine Arzt mit den blauen Augen."
- Halbstarker 1: "Dreamy!"
- Zahnarzt: "Neeeein! Der hat kurze Haare! ... Grey's Anatomy, kennen Sie das?"
- Mittfünfzigerin 1: "Wie? Nein."
- Zahnarzt: "Das ist so eine Arztserie! So eine Soap. Wie Lindenstraße oder Reich und Schön"
- Mittfünfzigerin 3: "Reich und schön? Das sind wir selber."
- Zahnarzt: "Aber Lindenstraße, ich hab mir das neulich mal angeschaut. Das ist schon eine sehr gute Geschichte, die da erzählt wird. Die spielen alle noch mit wie vor 20 Jahren. Man sieht die aufwachsen. Wie bei Big Brother."


Wieder wird neues Bier geholt. Dem schließe ich mich an, liegen wir doch hoffnungslos zurück. Mittlerweile ist das Fassbier alle. Die Stimmung droht zu kippen. Zum Glück gibt's noch Weizenbier. Mittlerweile sind sogar die Jungs vom Zahnarzt genervt. Twilight, der eine Arzt von Grey's Anatomy und Klausi Beimer aus der Lindenstraße scheinen sie nicht sonderlich zu interessieren. Sie wenden sich dem schüchternen Jungen zu, der seine Oma besucht, wie jedes Wochenende.

- Halbstarker 1: "Wie heißt du?"
- Schüchterner Typ: "Arne."
- Halbstarker 2: "Arnold?"
- Schüchterner Typ: "Arne."
- Halbstarker 1: "Arni?"
- Schüchterner Typ: "Arne."
- Halbstarker 2: "Haben Sie schon Arnold Schwarzenegger kennengelernt?"
- Mittfünfzigerin 1: Nur, dass er da bei euch hockt."
- Halbstarker 1: "Arnold, wo steigst du aus?"
- Schüchterner Typ: "In Hannover, mit den netten Damen"
- Halbstarker 2: "In Hannover? Mit den Königinnen? Du hast ja mehr Glück als Verstand!"

Die beiden Halbstarken versuchen die plötzlich eingetretene, peinliche Stille durch das Abspielen von elektronischer Musik zu füllen. Sogar der Zahnarzt aus Basel schweigt. Die Stimmung droht zu kippen.

- Mittfünfzigerin 1: "Kann man das mal ausmachen?"
- Halbstarker 1: "Aber wieso denn? Ist doch schöne Musik!"
- Mittfünfzigerin 2: "Ihr müsst auch mal Rücksicht nehmen auf alte Frauen"
- Halbstarker 2: "Ich wollte Sie gerade zum Tanzen auffordern."
- Mittfünfzigerin 2: "Ne, lass mal. Dafür haben wir die falschen Schuhe an."
- Halbstarker 1: "16cm-Absätze? In dem Alter sollte man auf Ballerinas umsteigen."
- Halbstarker 2: "Wie, Sie wollen nicht mit mir tanzen? Nicht mal Salsa?"
- Mittfünfzigerin 2: "Ne, lass mal."
- Halbstarker 1: "8cm? Die trag ich zum Frühstück."
- Halbstarker 2: "Ich mach nur den Grundschritt und eine Drehung."
- Mittfünfzigerin 3: "Vielleicht ein anderes Mal."
- Halbstarker 2: "Dann krieg ich Ihre Nummer?"

Senk ju vor träwelling wis Deutsche Bahn. Zugfahren kann so schön sein. Danke, Herr Weselsky, für die wunderbare Möglichkeit einer teilnehmenden Beobachtung. Dafür nimmt man dann gern einmal drei Stunden Verspätung in Kauf. Mein bisheriger Rekord liegt übrigens bei 12 Stunden. Das hatte allerdings Witterungsgründe. Ich würde mir trotzdem einen Erfolg in der Schlichtung wünschen. Denn wenn die Bahn ihre Mitarbeiter anständig bezahlt, muss sie sich wenigstens nicht mehr mit bösen Lokführern rumschlagen, sondern kann sich wieder ihren eigentlichen Feinden widmen: Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Schon bitter, dachten wir und freuten uns, dass uns zumindest am Pfingstwochenende der Twilight-Marathon erspart blieb.

"DR. AVERY!", rief der Zahnarzt dem Zug hinterher, nachdem er ausgestiegen war.


 

12 septembre 2014

U-Bahn-Gespräche #6

Im Sommer und noch dazu mit neuem Fahrrad gibt es nur wenige Gründe, den ÖPNV zu benutzen - außer: es regnet draußen "Katzen und Hunde". Skurrile Gespräche wecken dann allerdings doch die Erinnerung, dass es in der U-Bahn mitunter ganz witzig zugehen kann.   
 

Die Sommerferien sind vorbei. Es wird wieder voller und hektischer auf den Straßen. Wenn die wandelnden Ranzen nicht gerade mit dem Helikopter zur Schule gebracht werden, verstopfen sie die eh schon hoffnungslos überfüllten U-Bahnen. Die schiere Masse sorgt nicht nur für viel zu engen Körperkontakt mit Personen, denen man sonst nicht mal im Mickey-Mouse-Kostüm die Hand schütteln würde, sondern auch für indirekte und direkte Teilnahme an fremden Gesprächen. Will man das? ... ja.  

Gespräch#6 in der U-Bahn (passiv):
 
- A: Ist die behindert oder was?
- B: Ja meine Mutter dreht auch voll am Rad.
- A: Ey, die so: "du machst schon wieder nix für die Schule. Wie letztes Jahr" ... In der ersten Woche oder was? Die spinnt doch.
- B: Als ob wir da was auf hätten.
- A: Ich hab ihr gesagt, ich streng mich dieses Jahr mehr an. Und die kackt mich gleich.
- B: In der ersten Woche oder was?
- A: Ja, als ob da irgendwas wäre.
- B: Ja, meine Mutter auch so "mach Hausaufgaben!", ich so "wir haben keine auf" und die glaubt mir nicht.
- A: In der ersten Woche ey.
- B: Die checkt das nicht.
- A: Ja, die wollt mich gestern nicht mal rauslassen. Dabei bin ich extra hoch, damit sie sieht, mit wem ich unterwegs bin.
- B: Alles wegen Schule oder was?
- A: Ja, dabei haben wir nix auf. Ist doch erste Woche.
- B: Die checkt das einfach nicht.
- A: Aber ich will mich echt mehr anstrengen dieses Jahr. Aber noch nicht erste Woche.
- B: Da haben wir doch eh nix auf.
 
(Längere Pause. Vermutlich stellen beide gerade fest, dass ein nochmaliges Wiederholen der immer selben Sätze das Gespräch nicht weiterführen würde. Andernfalls hätte ich sie darauf hingewiesen. Folgendes Ende des herzergreifenden Dialogs könnte man ihnen aber auch nicht besser in den Mund legen.)

- B: Wir müssen raus, Holzhausenstraße.
- A: Boah, kein Bock auf Schule. Ist voll viel dieses Jahr.
- B: Ich auch nicht.
 
Die Banalität des Alltags. Schön. Aber irgendwie doch lieber Fahrrad.


6 août 2014

"Vorsicht, fickende Elche", oder: Wie ich plötzlich jede Woche wandern ging

Damals, im Familienurlaub, stand eine Aktivität besonders hoch im Kurs: das Wandern. Über Wiesen und Felder, Berge und Wälder, Schluchten und Buchten: bevorzugt dabei die Strecken, die wir in den letzten fünf Jahren schon zwanzigmal gelaufen sind. Als das Wandern allmählich vom Fahrrad fahren abgelöst wurde, verabschiedete ich mich so langsam aus den Familienurlauben. Als Teenie werden die irgendwann einfach uncool, gar sozial verpönt bei der eigenen Peer-Group. Nun, da ich langsam stark auf die 30 zugehe, gewinnt die längst überwunden geglaubte Aktivität wieder an Bedeutung.
 
Alles fing an, als ich erfuhr, dass man in Frankfurt, in Hessen und darüber hinaus gewissermaßen dazu verpflichtet ist, am 1. Mai einen (Wander-)Ausflug zu machen. Meinen ersten 1. Mai im goldenen Westen sollte ich im Kreis Bergstraße auf der Weinlagenwanderung verbringen. Wein ließ mich hellhörig werden. An einem Feiertag wandern und Alkohol trinken. Das kannte ich doch aus dem testosterongesteuerten Osten, wo man(n) an Christi Himmelfahrt seine Männlichkeit zelebriert und dabei ganz unmännlich gern mal mit dem Kajak kentert oder einen Salto vom Fahrrad in den Straßengraben macht. Hab ich zumindest mal gehört. Die Weinlagenwanderung ist toll, nur sollte man sie auf keinen Fall am 1. Mai machen. Wenn man Glück hat, hat man an sonnenklaren Tagen sogar einen wunderschönen Ausblick auf das Atomkraftwerk Biblis. Wenn das mal keine Reise wert ist! 


 
Zum Frankfurter Pflichtprogramm gehört daneben auch der jährliche Ausflug auf den Feldberg. Hat man erst mal die knapp 45minütige Fahrt mit der "U"-Bahn Richtung Oberursel-Hohemark überstanden, von wo der Aufstieg idealerweise beginnt, wird einem schlagartig klar, dass man hier im reicheren Teil des sowieso schon gut betuchten Frankfurter Speckgürtels angekommen ist. Diese Erkenntnis wird beim erfolgten Abstieg in Richtung Königstein nochmals verstärkt, wie schon Maria und Josef schmerzlich erfahren mussten (siehe vielbeachteter Zeit-Artikel, vom 26.12.2011). Falls man den Feldberg-Ausflug trotz der raketenartig herabschießenden Mountainbiker überlebt hat, kann man im lokalen Café zwischen Säulengang und Marmorterrassen bei einem Soja-Latte Macciato und Apfelstrudel für 113,50 Euro dem kläglichen Versuch der örtlichen High Society lauschen, ihre Kinder zweisprachig aufwachsen zu lassen, also hessisch und denglisch (bzw. henglisch muss es wohl in diesem Fall heißen).

Apropos Leute mit überzogenem Selbstbewusstsein: als (Groß-)Städter meint man manchmal, die als selbstverständlich wahrgenommenen Standards müssten überall gelten. So wollten wir uns nach abgeschlossener 25km-Wanderung entlang des Rheins den kleinen Luxus erlauben, den noch anstehenden 45minütigen Aufstieg zur Jugendherberge durch eine Busfahrt zu ersetzen. Smartphone raus, alles klar: Öffi-App schickt uns mit dem Regio in den Nachbarort, von dort bringt uns der Bus auf den Berg. Bei entspannten acht Minuten Umsteigezeit dürfte ja wohl nichts schief gehen. Denkste! Am Haltestellenschild stand plötzlich "ALB". Während ich noch überlegte, welchen jugendlichen Slang ich nach YOLO und SWAG schon wieder nicht mitbekommen hatte, las ich aus den entsetzen Gesichtern meiner Wander-Selbsthilfe-Gruppe, dass es sich hierbei um einen Anruflinienbus handelte, den man - falls man auf die abwegige Idee kommen sollte, ihn benutzen zu wollen - anderthalb Stunden vorher anrufen musste. Naja, was soll's. Die Zeit, bis das Taxi kam, verbrachten wir im örtlichen Bubble-Tea-Laden und luden die aktuellen Schnappschüsse bei Instagram hoch. Und Öffi wusste es ja immerhin auch nicht besser.


Aus Fehlern lernt man, hab ich gehört. Und so bereiteten wir uns beim Nibelungensteig ungleich besser vor. Die passenden ÖPNV-Verbindungen suchten wir uns diesmal sogar einen Tag(!) vorher raus und druckten diese aus(!!). Nach dreimaligem Verlaufen inklusive Schluss-Spurt kamen wir an der finalen Bushaltestelle an. Pointe diesmal: Bus fährt nur von Montag bis Freitag. Gestrandet waren wir in einem 100-Seelen-Dorf, ohne dass wir eine dieser Seelen zu Gesicht bekamen, wir hatten keinen Handy-Empfang und es gab nicht mal einen Bubble-Tea-Laden. Die ältere Dame, die uns gefühlte drei Stunden später (die Wölfe heulten schon) für zwei Waffeln in den nächsten Ort mit einer Busverbindung zurück in die Zivilisation fuhr, hat sich sofort einen Platz in meiner Top5 der nettesten Menschen im goldenen Westen gesichert - gleich hinter der netten Seele, die mir damals einen Federweißer ausgab, als ich ihn dringend benötigte.

Fazit: Es gibt wohl kaum eine größere Herausforderung als zu wandern. Dies stößt nur leider nicht überall auf die gebührende Anerkennung. Als wir neulich am Vierwaldstädter See mit vor Stolz geschwollener Brust von unserer Wanderung auf dem "Weg der Schweiz" erzählten, meinten unsere Schweizer Mitcamper: "Das ist doch kein Wandern! Da hat's nicht mal einen Berg!" Was soll man dazu noch sagen? Die nächste Wanderung kommt bestimmt. Und sei es nur, um herauszufinden, dass Lorelei in Wirklichkeit ein Mann war, im passenden Moment in einer Felsspalte zu pupsen oder den wunderschönen Ausblick aufs ortsnahe Atomkraftwerk zu genießen.  


31 juillet 2014

Deutschboden

Moritz von Uslar - arroganter Wessi, Journalist, Bildungsbürger, Großstädter trifft ihn: den ostdeutschen Proll - böse, widerlich, asozial, beinhart, abstoßend. Kann das gut gehen? Die größte Überraschung, so Uslar am Ende seines Buches, sei es, dass er in der Zeit keinen auf die Fresse bekommen hat.
 
Drei Monate will Uslar in das Zusammenleben in der ostdeutschen Provinz eintauchen und teilnehmend beobachten. Dabei ist ihm der exakte Ort egal, es soll eine Kleinstadt sein, größer als ein Dorf, kleiner als eine Stadt. Zu Beginn versucht der Autor seinen Berliner Freunden bei Steak und Champagner den Plan zu erklären, von dem er selbst noch nicht ganz überzeugt ist: 
 

"Ich haue ab von hier, dort hin, wo kaum ein Mensch je vor uns war - nach Hardrockhausen, Osten, nordöstliche Richtung, nicht zu weit weg, vielleicht eine Stunde von Berlin entfernt. Dort suche ich mir einen Boxclub, trainiere mit, hänge rum und tue nichts, außer die ganze Zeit nur zuzuhören und zuzugucken, was passiert, und abends stelle ich mich da hin, wo der totale Blödsinn erzählt wird, auf Parkplätze, an Tankstellen, in Pilslokale, und nebenbei erfahre ich alles über des Prolls reine Seele, über Hartz IV, Nazirock, Deutschlands beste Biersorten und die Wurzel der Gegenwart"

 

 
 
Ihn interessiere eigentlich nichts, sagt Uslar. Somit versucht er alle Klischees zunächst wegzudrängen. Gleichzeitig ist ihm klar, dass das nicht mal ansatzweise funktionieren wird. So steht er und inszeniert sich selbst als arrivierter Westdeutscher und zelebriert seine Vorurteile geradezu. Gerade weil er aufgesetztes Gutmenschentum vermeidet, wirkt das Buch authentisch.
 
Für drei Monate zieht er also in die Pension "Haus Heimat" der Stadt Oberhavel (so sein fiktiver Name für die Kleinstadt), wo als einzige Speise "Topfwurst" auf der Karte steht und er zum größten Teil der einzige Gast bleibt. Beim ersten Streifzug durch die "Innenstadt" springt ihm die enorme Anzahl von Nagelstudios ins Auge, die als eine der wenigen Geschäftsformen langfristig zu überleben scheinen. Andere Geschäfte schätzen ihre Überlebenschance oft selbst sehr gering ein oder erweitern ihr Sortiment um kreative Zusatzangebote: die Schneiderei ist gleichzeitig Steuerbüro, in der Videothek kann man Grillzeug erwerben.
 
 
 
In der Dorfkneipe 'Schröder' treffen sich allabendlich die gleichen Männer zum Feierabendbier bzw. zur Feierabendmolle (auch wenn sie oft keinen Feierabend im eigentlich Sinne haben). Hier lernt Uslar Raoul kennen, der für ihn eine Art Türöffner in die Gesellschaft Oberhavels ist. Raoul, Mitglied der Punkrockband '5 Theets Less' (!), ist so was wie der inoffizielle Babo der Oberhavel Mitt-Zwanziger-Dreißiger, die überwiegend ausgebildete Handwerker sind, und nun Hartz-IV-Empfänger mit wenig Perspektive auf einen sozialen Aufstieg. Dank Raouls Standing darf Uslar fortan offen mit Aufnahmegerät mit den jungen, männlichen Oberhavelern abhängen (natürlich herrscht Frauenmangel). Highlight des Buches ist dabei das Kapitel über den Abend an der Aral-Tankstelle, an dem im Grunde nichts und doch soviel passiert:


"Ich fragte Eric, warum alle diese Freunde so komplett anders waren als er, sein Bruder und die Jungs in der Band. Er sah mich an durch seine Sonnenbrillengläser. Er war überrascht. Auch amüsiert. Ihn interessierte die Frage.
Eric: Sind die so anders?
Ich bestätigte: Die sind völlig anders. Ja.
(...)
Eric erklärte: Ich glaube, das liegt daran, dass diese Jungs jünger sind als wir. Er Eric, sei 25, André, Fred und die anderen seien 20 und 21. Jahre. Es seien nur drei, vier Jahre Unterschied, aber diese Jahre machten viel aus.
(...)
Eric wollte noch etwas sagen. Ich sah, dass die leichte Anstrengung im Kopf etwas war, was ihm Freude bereitete, das Nachdenken lag ihm, bloß bekam Eric die Dinge, die in seinem Kopf waren, manchmal nicht in Worte gefasst und ausgespuckt. Seine abgeblätterten Fingernägel. Ich dachte: Ihr dummen Klischees, ihr seid doch alle wahr. Einer, der sich in der Kleinstadt die Fingernägel schwarz lackierte, der grübelte eben auch gerne nach, der wollte mehr wissen, wollte ein bisschen nachdenklich sein.
Eric: Die Jungs, verstehst du, haben die DDR nicht mehr miterlebt. Aber Rampa, Raoul und ich, wir kommen von früher. Wir haben das alte Deutschland noch mitgemacht."

***

"Die Schnitzelmeisterschaft, so erfuhr der Reporter, war das andere Riesending, der zweite gesetzte Termin im Sommerkalender der Kleinstadt. Zwanzig, dreißig Jungs nahmen an einer Festtafel im Restaurant Larifari Platz; dann ging es simpel darum, so viel paniertes Schnitzel wie nur irgend möglich in sich hineinzufressen. (...) dem Sieger winkten 200 Euro, dem zweiten Platz einhundert, dem dritten 50 Euro. Im letzten Jahr hatte Fred mit 1,3 Kilo den ersten Platz belegt, in diesem Jahr, so Raoul, würde sich die Tankstelle praktisch geschlossen anmelden, man wolle alle drei ersten Plätze heim nach Oberhavel holen."

***

"Wie in der Gaststätte Schröder, im Probenraum, bei jeder Autofahrt (...), herrschte auch auf der Aral-Tankstelle Witzzwang. Eine Wortmeldung an deren Ende nicht laut wiehernd gelacht werden konnte, muss auch hier als durchgefallen gelten."

***

"Gerüchte, welcher Investor die große Wiese an der Tankstelle kaufen wollte: McDonald's, so wusste einer, wollte kommen. McDonald's, so André, wäre für das Städtchen natürlich ein Hauptgewinn. Rossmann sollte demnächst neben Lidl eröffnen, das wäre für die Mädchen natürlich schön.
Raoul: Hier kommt niemand mehr." 

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"Sein Bericht überzeugt, weil er nicht klüger sein will als das Klischee", schreibt die FAZ. In der Tat verschwand auch meine anfängliche Skepsis über das Aufwärmen alter Klischees und Sozialromantik von Seite zu Seite. "Alte Kacke, gehen mir die Penner, gehen mir die Alkoholiker, Hirntoten, Eingefallenen, Zusammengefallenen und sonst wie Hinüberen und Weggetretenen in diesem Ort auf den Sack“, schreibt Uslar einmal zu Beginn. Diese Ehrlichkeit und der Verzicht auf vermeintliche Moral machen das Buch verdammt glaubwürdig. Von Seite zu Seite findet man die Protagonisten liebenswerter: Wirt Heinz Schröder, die unnahbare Bedienung Maria, Box-Trainer Maik, die Band Raoul, Eric und Rampa und all die anderen Männer von der Tankstelle: Blocky, Schubi, Phase, Hief Lätscha, Hundertzehnprozent und wie sie alle heißen. Sie alle haben sich ihren Platz am Rande der Gesellschaft nicht selbst ausgesucht, sie sind Charaktere mit tristen, aber letztendlich alltäglich-langweiligen Biographien, gefangen zwischen kommunistischer Jugend und teilweise rechter Vergangenheit, arbeitslos, perspektivlos, frauenlos, aber ruhig und im Leben stehend - und Besitzer von aufgemotzten Autos, deren Motor sie allzu gerne aufheulen lassen. Moritz von Uslar selbst wird einem nicht minder sympathisch auf diesen 400 Seiten. Er erwartet zu Beginn nichts aufregendes und findet am Ende nichts spannendes: "Ich war Reporterdarsteller. Mich interessierte eigentlich nichts, das war ja das Geile." Wie er es jedoch schafft, den ganz normalen, eigenartigen, langweiligen Oberhavelern näherzukommen, ihre Charaktere zu zeichnen und ihr ereignisloses Leben eindrucksvoll zu beschreiben, ist schlicht grandios. Deutschboden! Kauft, lest und genießt! Es lohnt sich. Versprochen.


Moritz von Uslar (2010): Deutschboden. Eine teilnehmende Beobachtung. Kiepenheuer & Witsch, Köln. 19,95 Euro.


9 avril 2014

Dragoslav schlägt Kool and the Gang, oder: Wie ich einmal ein Pferderennen besuchte

Hier also ein weiteres Beispiel aus der Reihe "Ich geh ja jetzt stark auf die 30 zu". Tanzen gehen und die Nacht durchmachen war gestern, heute heißt es Pferderennen.

Neulich hab ich von dieser Bürgerinitiative gehört, die sich für den Erhalt der Frankfurter Pferderennbahn einsetzt. Aha, dachte ich, es gibt also eine Rennbahn in Frankfurt. Gut zu wissen. Oder? Warum auch immer Bürgerinitiativen so oft auf die abstruse Idee kommen, sich "Pro Irgendwas" zu nennen, beispielsweise wie diese rassistische Bewegung "Pro NRW", die ja letztendlich immer nur gegen etwas sind, in dem Fall also gegen Ausländer, ist freilich eine andere Frage. Zum Saisonauftakt im Jubiläumsjahr des Frankfurter Renn-Klubs e.V. durfte ich also nicht fehlen und machte mich auf den mühsamen Weg ins ferne Niederrad. 

Wie immer wenn man etwas zum ersten Mal macht, geht es entweder schief oder ist schnell vorbei. Aber lassen wir das. Völlig jungfräulich zahlten wir also den (zum Glück ermäßigten) Eintritt, bekamen ein Programmheft und irrten sodann völlig ziellos auf dem Gelände rum. Der Reiz des Pferderennens liegt natürlich nicht darin, dass ein bestimmtes Pferd, von dem man Fan ist, gewinnt, sondern jenes, auf das man gesetzt hat. Also etwas so, als würde man immer hoffen, dass der FC Bayern gewinnt, nur weil es wahrscheinlich ist. Das erste Rennen schauten wir uns als neutrale Zuschauer an und siehe da: es gewann das favorisierte Pferd. Ist ja einfach, dachten wir. 

schöne Pferde, schöne Skyline

Beim zweiten Rennen wollten wir also das große Geld machen und setzten e i n e n Euro auf das favorisierte Pferd und siehe da: es wurde nicht mal fünfter. Vielleicht sollte man sich vorher doch mal mit den Regeln beschäftigen oder damit wie man den Wettschein ausfüllt... Es gibt mehrere Wettformen mit unterschiedlichen Logiken, verriet Wikipedia. Je wahrscheinlicher die Gewinnchance, desto geringer fällt auch der erwartbare Gewinn aus. Als Anfänger trauten wir uns jedoch über die beiden Typen "Sieg" (also ein bestimmtes Pferd gewinnt) und "Platz-Zwilling" (zwei Pferde kommen unter die ersten drei Plätze) nicht hinaus. Nach einigen sieglosen Runden gewann ich doch tatsächlich bei einem Euro Einsatz 1,70€. Immerhin ein Anfang. 

Schon bald spürten wir die Sucht in uns größer werden. In fünfzig Prozent der Rennen gewann das Pferd mit der besten Quote (also Sieg wahrscheinlich, Gewinn gering). Darauf konnte man sich folglich nicht verlassen. Neben den Quoten sowie den Prognosen einzelner lokaler Zeitungen konnte man sich vor den Rennen von den Pferden selbst ein Bild machen. Im sogenannten Führring kann man sich Pferd und Reiter anschauen und muss dabei völlig überzeugende Argumente abliefern wie "Das Fell sieht gut aus!", "Auf Sand kommt er besser zurecht" oder "Guter Arsch" So taten es zumindest unsere Nebenmänner und -frauen. Oder man lässt sich einfach von den wunderbaren Namen beeinflussen, hier meine persönliche Top 5:

5. Ambizioso
4. Pleasantpathfinder
3. Earl of Heinz
2. Queenoftheprairie
1. Kool and the Gang

Und dann weißt du es auf einmal. Du sieht dieses Pferd, es sieht so elegant aus ("guter Arsch"), du verliebst dich, es kackt dir vor die Füße und du spürst: Dragoslav wird gewinnen. Du setzt alles auf Sieg (1 Euro), gehst auf die Tribüne, die Pferde galoppieren an dir vorbei, Dragoslav liegt hinten, Enttäuschung macht sich breit, doch dann: Aus. Aus. Aus. Das Rennen ist aus. Dragoslav gewinnt. Mit breiter Brust galoppierst du zum Schalter und holst dir deine 7,60€ ab (auf Dragoslav hatten nicht allzu viele Leute gesetzt).

Fazination Pferderennen. So wichtig wie die meisten Zuschauer sahen wir natürlich nicht aus. Schließlich gehen wir ja auch nicht auf den Golfplatz. Aber sei's drum, ich habe 7,60€ gewonnen. Bei siebenmaligen Einsatz von einem Euro hab ich also Gewinn gemacht. Beim nächsten Mal werden wir sicherlich viel professioneller und kaltschnäuziger rangehen und unglaublich reich werden. Hüh.