24 juillet 2012

Hipstertum trifft Schützenfest

Es geht ein Gespenst um in zahlreichen Großstädten - das Hipstertum. Berlin ist dabei wohl DIE (deutsche) Hipster-Hauptstadt. Das Label "Hipster" wird als Fremdzuschreibung meist negativ konnotiert, ob es überhaupt als Selbstzuschreibung verwendet wird, bleibt offen!? Verschiedene Stereo-Type aka Klischees sind jedoch eindeutig identifizierbar. Ein wenig Selbstironie ließ dabei die zweite Hipster-Olympiade vermuten. Ein Trugschluss? 

Der Blog Kultmucke.de veranstaltete nach 2011 nun schon zum zweiten Mal die weltweite Hipster-Olympiade:

Quelle: kultmucke.de
"Auch in diesem Jahr gibt es in Berlin Hipster, Fashion-Victims und Modekuriositäten wie Sand am Meer. Und was einst als ironischer Ausdruck des eigenen Individualismus begann, ist in vielen Berliner Innenstadtbezirken mittlerweile längst zum Breitensport geworden. Deshalb ist es wieder an der Zeit die Berliner Hipster gegeneinander antreten zu lassen und den „Hipster des Jahres 2012“ zu krönen."



In den olympischen Diziplinen Hornbrillen-Weitwurf, Mate-Kisten-Wettrennen, Hipster-Vintage-Bart-Basteln, Jutebeutel-Sackhüpfen, Skinny-Jeans-Tauziehen, Konsumprodukte-der-Preis-ist-heiß, Konfetti-Hürden-Lauf uvw. traten zwölf Teams gegeneinander an.

Mate-Kisten-Wettrennen

Die Beschreibung des Events und die geplanten "Sportarten" ließen ein sehr witziges, selbstironisches Event erwarten. Tatsächlich löste die Hipster-Olympiade mitunter das eine oder andere Schmunzeln aus. Sowohl Publikum als auch die teilnehmenden Athleten und Athletinnen würde man jedoch auf den ersten Blick größtenteils nichts als Hipster beschreiben. 


Jute-Beutel-Hüpfen festgehalten mit IPhone

Überhaupt wurde die Olympiade von den Veranstaltern und vielen Teilnehmenden viel zu ernst genommen. Wenn das Hip-Hopper-Team (ja, Hip-Hopper, nicht Hipster!) den Schiedsrichter anpöbelt, erinnert das eher an ein Fußball-Spiel zwischen dem 1. FC Lok und Dynamo Dresden. Und wenn die Moderatoren das Team "Die Dehnbaren" (sehr kreativ!), bestehend aus 12jährigen Mädels, vorstellt mit "ach ja, ab zwölf ist alles dehnbar", fühlt man sich nicht mehr wie auf einem hippen, frischen, alternativen Event, welches das Hipstertum selbstironisch auf die Schippe nimmt, sondern fühlt sich erinnert an die Bomben-Stimmung eines dieser tollen Dorffeste, auf denen der Schützenkönig zum Sieg die Weinkönigin serviert bekommt. Traurig, aber wahr.


16 juillet 2012

Der Jakubijân-Bau: Mikrokosmos der ägyptischen Gesellschaft?

Der ägyptische Autor Alaa al-Aswani veröffentlichte 2002 einen wahrhaft großen Roman über das Ägypten der frühen 1990er Jahre. Episoden über die Bewohner des Jakubijân-Baus in der Kairorer Innenstadt sollen dabei die ägyptische Gesellschaft in diesem Mikrokosmos widerspiegeln. Auch wenn es sich um eine fiktive Erzählung handelt, lässt sich vermuten, dass al-Aswani viele Elemente davon selbst erlebt hat. Nicht zuletzt befindet sich seine Zahnarzt-Praxis selbst im Jakubijân-Bau. 


"Im Jahre 1934 beschloss Hagop Jakubijân, Millionär und damals Oberhaupt der armenischen Gemeinschaft in Ägypten, ein grosses Wohnhaus zu errichten, das seinen Namen tragen sollte. Er wählte dafür die beste Stelle in der Sulaiman-Pascha-Straße und beauftragte mit dem Bau ein bekanntes italienisches Architekturbüro, das ihm einen überzeugenden Plan vorlegte: zehn eindrucksvolle Geschosse im prächtigen klassisch-europäischen Stil: Balkone, geschmückt mit steingehauenen griechischen Gesichtern, Säulen, Treppen und Gänge in naturbelassenem Marmor, ausserdem das neueste Modell eines Schindler-Aufzugs."
 Nun ist der Jakubijan-Bau nur Mittel zum Zweck, dient er doch dazu, sehr unterschiedliche Charaktere aus verschiedenen sozialen Schichten, unterschiedlichen Religionen und Herkünften, mit unterschiedlichen Werten, Erinnerungen, Bedürfnissen und Ansichten zusammenzubringen. Ihre jeweiligen Geschichten sind dabei zunächst unabhängig voneinander, sind aber durch zahlreiche Facetten miteinander verwoben. Die spannenden Erzählstränge sind jedoch noch viel aufregender, wenn man sich einmal vor Augen führt, was Alaa al-Aswani mit der Thematisierung von "Tabuthemen" wie Korruption, Homosexualität, Folter, sexueller Ausbeutung und islamistischer Gewalt in Ägypten (freilich vor dem sogenannten arabischen Frühling) ausgelöst haben muss.

Manchmal hat man den Eindruck, man liest eine ägyptische Seifenofer à la GZSZ, jedoch findet sich in dem unglaublich dichten Buch an nahezu jeder Stelle Kritik "an den herrschenden Verhältnissen". Al-Aswani erzählt die Geschichten von sehr vielen unterschiedlichen Charakteren, sodass man sehr oft den Überblick verliert und zurückschlagen muss auf die ersten Seiten, auf denen die Figuren beschrieben werden. Schon bald stellt sich jedoch heraus, dass vier, fünf Figuren besonders wichtig sind.


Der gealterte Casanova Saki Bey al-Dassûki ist dabei eine der unterhaltsamsten Personen. Er steht für die Glorifizierung der Zeit bis in die 1950er Jahre, in der Kairo noch eine sehr europäisch geprägte Stadt war. Solche Aussagen à la "Früher war sowieso alles besser" hörten wir auch selbst nicht selten im Rahmen des Field Trips nach Kairo. Melancholisch erinnert Saki sich an diese Zeit, hört Chansons von Edith Piaf und vermisst die Kneipen, die noch alkoholische Getränke ausschenkten.

"Saki Bey gehört zu jenen Männern, die dem weiblichen Charme hoffnungslos verfallen sind. Für ihn ist die Frau nicht eine Leidenschaft, die aufflammt und, sobald gesättigt, erstirbt, sondern ein Universum aus Faszination, die sich in immer neuen Bildern zeigt, verlockend vielfältig: die blühende, volle Brust mit den vorstehenden Spitzen wie köstliche Trauben; der frische, weiche Hintern, bebend, als erwartete er seinen Überraschungsangriff von hinten; die gefärbten Lippen, die Küsse schlürfen und genussvoll stöhnen; das Haar in all seinen Offenbarungen - lang und ruhig fallend oder kurz und wild mit krausen Zöpfen oder halblang und solide häuslich oder auch kurz als Bubikopf, Hinweis auf unübliche knabenhafte Sexarten; dann die Augen, ach diese Blicke, wie hinreißend sie sind, gleichgültig ob falsch oder geheimnisvoll, dreist oder scheu, oder gar tadelnd, zornig oder missbilligend."
Saki ist dabei der Vertreter einer höheren Schicht, die aber langsam dem Untergang geweiht ist. Ganz anders sind die Bewohner des Dachs zu betrachten. Vom übrigen Gebäude unabhängig wohnt dort eine eher ärmere Schicht, u.a. die Dienstboten und Hausmädchen der Bewohner des Jakubijân-Baus, die dort in spärlichen Kammern hausen, die ursprünglich als Abstellkabuffs gedacht waren. Die Kinder rennen barfuss und halbnackt herum. Die Frauen verbringen den Tag damit, Essen zu kochen und miteinander zu streiten. Buthaina und Taha sind zunächst ein Paar, bevor sie sich in sehr unterschiedliche Richtungen entwickeln, jedoch beide gefangen in einer Auswegslosigkeit, weil sie mehr wollen, als ihnen zu steht. Taha wird nicht auf der Polizeischule aufgenommen, weil er nicht genügend Geld hat, die Polizisten zu schmieren und wendet sich anschließend dem islamischen Fundamentalismus zu. Buthaina kommt erst innerhalb ihrer verschiedenen Jobs weiter, in dem sie feststellt, dass sie "einen schönen, erregenden Körper besitzt, dass ihre großen honigfarbenen Augen, ihre vollen Lippen, ihre kräftige Brust und ihr wohl gerundeter Hintern mit seinen wippenden Backen, dass all dies wichtige Accessoires im Umgang mit anderen Menschen sind" und  ihren Körper zu verkaufen beginnt.

Dem Neurreichen Hagg Muhammed Asâm folgen wir auf dem Weg ins ägyptische Parlament. Seinen Parlamentssitz hat er sich dabei vom Generalsekretär der regierenden Partei erkauft. ("Also bitte, Sie reden mit Kamal al-Fuli. Dreißig Jahre Parlamentserfahrung. Es gibt keinen Kandidaten in unserem geliebten Ägypten, der ohne unsere Zustimmung siegen würde, so Gott will.") Im privaten muss er sich mit seiner Zweitehefrau rumschlagen, für die er eineWohnung im Jakubijân-Bau gemietet hat und von der seine erste Ehefrau nichts mitkriegen darf. Entgegen der Vereinbarung im Ehevertrag ist sie schwanger geworden. Als sie partout nichts von einer Abtreibung wissen will, zwingt Hagg sie dazu. Die geistigen Führer kommen dabei nicht weniger schlecht weg. Der eine, auf der Seite des Regimes, versucht die Ehefrau im  Namen des Islams zur Abtreibung zu bewegen. Der andere, gegen das Regime, predigt einen sehr fundamentalistischen Islam und bringt Taha (siehe oben) dazu, durch einen Terroranschlag in den Tod zu rennen. 

Wenn Alaa al-Aswanis also all diese Geschichten erzählt, thematisiert er dabei sicherlich so einiges, worüber sonst in Ägypten nicht gesprochen wurde, bspw. Zwangsabtreibung, Korruption, Prostitution, schmierige Geschäfte, Terrorismus und Folter. Das tägliche Leben in Ägypten kann dabei leicht mit einer überheblichen Distanz betrachtet werden. Man sollte jedoch stets aufpassen, dabei nicht mit einer eurozentristisch gefärbten Arroganz, die kranke und korrupte Gesellschaft zu beklagen. Einige Facetten der beschriebenen Gesellschaft sind dabei der "unseren" gar nicht so fern. 

Stets fesselnd und unterhaltsam und dabei nur selten unrealistisch(?) erzählt al-Aswani das Leben der Bewohner des Jakubijan-Baus. Die Lektüre seines Romans, der 2006 verfilmt wurde, sei hiermit jedem wärmstens empfohlen. 

 Al-Aswani, Alaa (2002): Der Jakubijan-Bau. Roman aus Ägypten